Neue öffentliche Trauer-Räume

Zum sechsten Mal fand vom 3. bis 5. November 2016 an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock die "Funerale" statt. Diese wissenschaftliche Tagungsreihe zur Bestattungskultur wurde erstmals gemeinsam mit der Verbraucherinitiative Aeternitas und der Universität Zürich organisiert.

Zentrales Thema war der Komplex "Friedhofspflicht/Friedhofsflucht". Laut Gastgeber Prof. Dr. Thomas Klie vom Lehrstuhl für Praktische Theologie in Rostock gehen die für das Bestattungs- und Friedhofsrecht zuständigen deutschen Länder im europäischen Vergleich einen "restriktiven Sonderweg". In allen anderen europäischen Staaten sei der in Deutschland seit 1934 geltende Friedhofszwang inzwischen aufgehoben. Die Tagungsteilnehmer diskutierten mögliche Konsequenzen der auch in Deutschland zu erwartenden Liberalisierung für die Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur.

Neue Gedächtnislandschaften
Einig sind sich die Experten darin, dass sich das Spektrum der Erinnerungskultur künftig "in den öffentlichen Raum hinein erweitern wird", so Prof. Dr. Norbert Fischer von der Universität Hamburg. Er erkenne "neue Muster materialisierter Memorialkultur" (Public Mourning) wie etwa die seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Unfallkreuze an Straßenrändern. Solche Formen des Gedenkens wirken laut Fischer auf die Gestaltung der Friedhöfe zurück und erzwingen dort eine "Flexibilisierung der Grabkultur". Eine maßgebliche Rolle spiele die zunehmende Dominanz der Einäscherung: "Asche ist zum sepulkralen Signet der mobilen Gesellschaft geworden, da sie flexible Beisetzungsmöglichkeiten erlaubt." Fischer erwartet eine Zunahme von "Gedächtnislandschaften im öffentlichen Raum". Bisher fest strukturierte und institutionalisierte Orte von Bestattung und Erinnerung würden verflüssigt. "Die neuen Alternativen setzen der Abgrenzung und Ausschließung im eingezäunten, reglementierten Friedhof eine Verknüpfung mit den Räumen der Lebenden entgegen", sagte er. Bestattungs- und Memorialkultur würden damit "tendenziell auseinanderfallen", sich aber auch weiterhin bedingen.

Letzte Ruhe unter Fans
Aktuelle sepulkralkulturelle Entwicklungen im europäischen Vereinsfußball schilderte der Direktor der Schwabenakademie Irsee, Dr. Markwart Herzog, der sich u.a. auf das Buch "Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens" bezog. Die erste Fan-Nekropole war 1996 das Aschestreufeld des niederländischen Klubs Ajax Amsterdam auf dem Friedhof Westgaarde, so Herzog. Heute sei das Streufeld ein fester Bestandteil der Amsterdamer Sepulkralkultur, das die traditionellen Friedhöfe bereichere und neue Beisetzungsrituale ermögliche. Auf dem Hamburger Hauptfriedhof Altona habe man 2008 ein HSV-Grabfeld als letzte Ruhestätte für diejenigen Mitglieder und Fans eröffnet, die über das Lebensende hinaus die Nähe zu Verein und Stadion suchen. 2012 sei auf dem Friedhof im westfälischen Beckhausen-Sutum das stadionförmige "Schalke FanFeld" als Gemeinschaftsgrabanlage für Urnen- und Reihengräber entstanden.

Vom Wert klassischer Friedhöfe
"Der klassische Friedhof ist nicht todgeweiht", beteuerte Rainer Wirz von der Leitung des Friedhofs Hamburg-Ohlsdorf. Er sei "noch immer mehrheitlich ein akzeptierter Ort der Trauer". Damit das so bleibe, müsse man "seinen Wert für die Lebenden und die Toten deutlich machen und individuelle Bedürfnisse ernst nehmen". Friedhofssatzungen und Verordnungen würden die Nutzer erheblich "strangulieren", was das Verlangen nachAlternativen fördere. Allein in Ohlsdorf "gängeln" laut Wirz 49 Gestaltungsvorschriften den Steinmetz wie die Hinterbliebenen. Um den Friedhof wieder für die Mitte der Gesellschaft attraktiv zu machen, pflege Ohlsdorf einen breit angelegten Dialog mit Steinmetzen, Gärtnern, Bestattern und interessierten Bürgern. Man vermarkte sich als Gartendenkmal, Begegnungsraum für alle Generationen sowie als Natur- und Erholungsraum. Außerdem müsse sich der Friedhof stärker zum Ort für Kultur und Bildung, Besinnung und Begegnung, Atmosphäre und Stille sowie zu einer "Geschichtswerkstatt" entwickeln. "Mit diesen Ansätzen wird Ohlsdorf wieder Akzeptanz gewinnen, Kulturmittelpunkt werden und Angebote vorhalten, die nicht nur von Trauernden in Anspruch genommen werden", hofft Wirz. Die Grabfelder "Baumgräber" und "Ohlsdorfer Ruhewald" sollen der Tendenz zur Naturbestattung Rechnung tragen – verstärkt durch eine nutzerfreundliche Infrastruktur (Busanbindung, Feierhallen, Toiletten, Ansprechpartner, Parkplätze etc.). Keinesfalls solle der Friedhof aber ein "Vergnügungspark" werden. Er bleibe ein Ort der Besinnung, des Rückblicks, der Trauer, aber auch der Hoffnung. Wichtig seien "eine ausgewogene Balance für das notwendig zu Regelnde sowie die freie, individuelle Gestaltung durch den Nutzer". Hierzu gehöre eine größere Flexibilität bei der Wahl von Belegungszeiten, etwa "kein stures Beharren auf eine Verlängerung um weitere 25 Jahre". "Mehr individuelle
Lösungen ermöglichen", laute die Devise.

Weitere Redner waren der Soziologe Dr. Thorsten Benkel von der Universität Passau, der sich unter der Überschrift "Flucht aus der Normativität?" mit Problemen der Institutionalisierung von Emotionen am Beispiel der Trauer beschäftigte, sowie Pfarrer Lukas Stuck aus Zofingen bei Luzern. Letzterer berich tete, dass sich 74 % der Schweizer kirchlich bestatten lassen wollen, obwohl nur noch 69 % offiziell konfessionsgebunden seien. Zudem würden in der Schweiz, wo kein Friedhofszwang besteht, nur etwa ein Fünftel der Angehörigen die Asche mit nach Hause nehmen. Häufig werde die Asche unter mehreren Hinterbliebenen verteilt.

(7.1.2017)

Autor/in: Harald Lachmann