Zentimeter für Zentimeter

Hoch hinaus, aber nur mit Erlaubnis: Ab einer Flughöhe von 100 m muss die Vermesung mittels Drohne bei der Stadt angemeldet werden. (Fotos: Manuela Wolf)
Hoch hinaus, aber nur mit Erlaubnis: Ab einer Flughöhe von 100 m muss die Vermesung mittels Drohne bei der Stadt angemeldet werden. (Fotos: Manuela Wolf)
Mit viel Freude bei der Sache (v.l.): Michael Jürkel, Patrick Reschke von Northdocks und Matthias Deml (Öffentlichkeitsarbeit)
Mit viel Freude bei der Sache (v.l.): Michael Jürkel, Patrick Reschke von Northdocks und Matthias Deml (Öffentlichkeitsarbeit)

Kölner Dom? Rund 65 % mittelalterliches Mauerwerk, 300.000 t schwer, 407.000 m³ umbauter Raum, 1.125 Fialen, 12.000 m² Dachfläche, 6 Mio. Besucher jährlich. Lässiges Schulterzucken bei Patric Reschke und Joachim Perschbacher von der Northdocks GmbH in Monheim. Sicher, viel Arbeit und so. Aber: Keine reflektierenden Oberflächen wie Stahl oder Aluminium oder Plastik, die das Fotografieren schon bei schwachem Sonnenlicht erschweren. Keine baugleichen Teile, die das Computerprogramm als identisch ausmachen und fälschlicherweise auf ein und derselben Koordinate platzieren würde. "Kein Problem", ließen sie also Michael Jürkel von der Dombauhütte wissen bei der Vorbesprechung für ein digitales Aufmaß. "Da haben wir schon schwierigere Projekte gemacht."

Viele Fehlversuche
Jürkel war irritiert. Mehrfach hatte der Steintechniker nach Wegen gesucht, die  Silhouette dieser weltberühmten Kathedrale ins Digitale übertragen zu lassen. Arbeitserleichterung plus Zeitersparnis plus Planungssicherheit hatte er sich erhofft. Stattdessen lieferten alle bisherigen Versuche ungenaue Ergebnisse oder scheiterten an der Höhe. Die Flächen, die an den Dom angrenzen, sind wegen untenliegender Tiefgaragen und Tunnel nur mit knapp 30 t belastbar – zu wenig für die benötigte, große Hubbühne. Bisher war deshalb in einer Arbeitshöhe von etwa 75 m Schluss: "Und es gibt Bereiche, die selbst für unsere Industriekletterer nur schwer oder gar nicht erreichbar sind. Einige Stellen, besonders an den Türmen, sind seit 160 Jahren nicht begutachtet worden."

Wissen trifft auf Spieltrieb
Nun also die Jungs von Northdocks. Würden sie ihr Versprechen halten und nicht nur abschnittweise 3D-Pläne von Kölns Wahrzeichen erstellen, sondern auch einen digitalen Zwilling? Joachim Perschbacher und Patrick Reschke haben 2011 begonnen, partnerschaftlich zusammenarbeiten, Beide sind sie: Zocker, DrohnenPiloten, IT-Spezialisten, beide wollten sie ihre visionär geprägte Leidenschaft für Technik im weitesten Sinne beruflich ausleben. 2015 dann der Schritt in eine gemeinsame Zukunft. Steckenpferd ist inzwischen das Erstellen digitaler Zwillinge: "Wir sind überwiegend fürUnternehmen aus der Chemiebranche tätig. Es gibt einen großen Bedarf an der Vermessung von Firmengeländen. Oft wurde über lange Zeit angebaut, umgebaut oder erweitert, die Übersicht ist dabei verloren gegangen." Als Arbeitsgrundlage dient ihnen stets der beständige Austausch mit Kunden. Es ist immer wieder ein Hineindenken, ein Hineinfühlen. Wofür werden die Informationen benötigt? Welche Aufbereitungsform bietet den größten praktischen Nutzen für anstehende Vorhaben? Hinter dem erfolgreichen Geschäftsmodell steckt eine simple Idee. Eine Drohne fotografiert Abschnitt für Abschnitt. Aus einem unsortierten Berg an Aufnahmen, denen sich GPS-Daten von 20 Satelliten zuordnen lassen, wird eine Punktwolke zusammengesetzt. Am Ende entsteht aus hunderttausenden Puzzleteilen ein gigantisches Modell, das nicht näher dran sein könnte an der Realität. Die Aufnahmen vom Dom bspw. lassen feinste Risse im Stein erkennen und Staub, der auf Balustraden liegt. Die Umsetzung erfordert freilich Expertenwissen. Bei Northdocks sind aktuell 20 Fachleute beschäftigt. Sie bringen ihr Wissen aus den Bereichen Animation, 3D-Modellierung, 3D-Simulation, Virtualisierung, Datenanalyse und Verfahrenstechnik ein.

Plötzlich Zocker
In Jürkels Generation gilt Computerspielen nicht als erstrebenswerter Zeitvertreib. Dementsprechend fremd war ihm anfangs die Handhabung von VR-Brille und den dazugehörenden Controllern. Virtuelle Realität – wie geht das? "Die Handhabung ist selbsterklärend. Der Trick ist deshalb, den Leuten die Ausstattung hinzulegen und dann den Raum für ein paar Minuten zu verlassen", so Patrick Reschke. "Jeder Mensch hat einen natürlichen Spieltrieb, ist aber gehemmt, wenn zu viele Beobachter um den Weg sind." Tatsächlich bewegt sich Michael Jürkel inzwischen sicher in dieser faszinierenden Parallelwelt. An einem Bildschirm kann man sein Tun in Echtzeit verfolgen. Er gleitet in Windeseile am Dom entlang, hinauf, hinunter, Vogelperspektive, Detailansicht. Er nimmt einen Tachymeter zu Hilfe, um schadhafte Steine auszumessen. Er setzt hier und da bunte Fähnchen, hinterlegt Informationen über Befunde, geplante Maßnahmen, abgeschlossene Maßnahmen. Ergänzende Fotos können ebenso gespeichert werden wie Screenshots. Daraus wiederum können technische Zeichnungen angefertigt werden. Auch der virtuelle Austausch mit anderen Dombauhütten und Münsterbauhütten ist nun möglich: Hey, wie würdet ihr an dieser Stelle weitermachen? Gemeinsam mit seinem Kollegen Wolfgang Küpper, der an der Kölner Dombauhütte als Steinmetz tätig ist, hat er zu Beginn pandemiebedingt gleich eine ganze Woche in ein digitales Monitoring investiert. Sobald wie möglich sollen auf fällige Stellen, die mit dem Autokran erreicht werden können, überprüft werden, "dadurch gewinnen wir Sicherheit in der Interpretation der digitalen Daten." Jürkel kann sich bis heute nicht satt sehen an diesen ungewohnten Blickachsen. Viele Details hätte er ohne Hilfe der Technik vermutlich nie entdeckt. Stehen eine neue Version oder neue Werkzeuge zur Verfügung, setzt er die VR-Brille auf und hebt für einen halben Tag ab. Wie toll sich dieses Schweben anfühlt, trotz beider Beine fest auf dem Boden! Patrick Reschke: "Ich musste lachen, als mich Michael damals angerufen und gefragt hat, ob es sein kann, dass nach nur zwei Stunden der Akku der Brille leer ist. Zwei Stunden? So lange habe ich die Brille nie auf, das ist auf Dauer sehr anstrengend."

Northdocks hat einen ausgebildeten Hubschrauberpiloten im Team. Dessen Wissen über Thermik und die allgemeinen Regularien des Flugbetriebs tragen
maßgeblich zum Unternehmenserfolg bei. Dezent bewölkt, windstill, null Niederschlag: Optimale Bedingungen für einen Drohnenflug liegen selten vor. "In dem Punkt ist der Dom tatsächlich eine Herausforderung. Er steht relativ frei auf der Platte, aber viele Fußgänger sind hier unterwegs und oben können jederzeit heftige Verwirbelungen auftreten", erklärt Joachim Perschbacher. "Da braucht man Erfahrung, um Bilder aus nächster Nähe machen zu können, ohne den Dom zu gefährden oder gar die Drohne." Oftmals sind zwei Piloten vor Ort. Ab einer bestimmten Höhe wird an den Kollegen übergeben, der sich z.B. innerhalb des Strebwerks platziert. Dort bricht wegen der Bleidächer die Verbindung zu den Satelliten immer wieder ab. Es wird auf
Sicht geflogen.

25.000 Euro in der Luft
Der sogenannte Quadrocopter verfügt über vier Motoren und Propeller. Dadurch liegt er recht stabil in der Luft. Das Gesamtkonstrukt ist auf den Einsatzzweck optimal abgestimmt: Drohne von DJI , Kamera von Sony, Objektiv von Sigma, Gewicht etwa 10 kg, Flugdauer ca. 30 min, Fluggeschwindigkeit 30 km/h, Preis ca. 25.000 €. Das Vermessungs-Projekt läuft seit Herbst 2019. Wochenweise wird geflogen, Abschnitt für Abschnitt, stets mit offizieller Genehmigung und vielen Zuschauern, die sich für das Projekt interessieren. Die Drohne kommt dabei bis auf zwei Meter ans Gebäude ran. Weitwinkelaufnahmen erlauben bisher unbekannte Perspektiven. Anschließend laufen bei Northdocks die Rechner heiß. Ein selbstentwickeltes Programm sortiert nach Algorithmen aus. Nach jeder Flugeinheit müssen bis zu 10.000 Bilder bzw. 1 Terrabyte neue Daten in der Punktwolke ergänzt werden, die Bezug nimmt auf ein bereits bestehendes Koordinatensystem der Dombauhütte. Die Wolke gleicht einer nahezu durchsichtigen Hülle. Mal schnell rüber ans andere Ende oder nach oben zum Nordturm? Durch hunderte Jahre alte Mauern nicht nur sehen, sondern auch gehen zu können, macht die Orientierung leicht. Der digitale Zwilling, der da nebenbei heranwächst, ist gewissermaßen nur ein Abfallprodukt.

Bauzeitenplan wird beibehalten
"Es gibt Tage, da überlege ich, ob ich vom Büro schon wieder hinuntergehe, um etwas nachzusehen, oder ob ich nicht einfach schnell die Brille aufsetze", berichtet Michael Jürkel. Auch vom Homeoffice aus greift er regelmäßig auf diese digitale Möglichkeit der Begutachtung zurück, die genaugenommen viel mehr Möglichkeiten bietet als das echte Leben. Erste Versuche haben die Genauigkeit der Aufnahmen übrigens bestätigt, die Abweichungen liegen unter 1 mm. Virtuell genommene Maße ermögliche nun schon die Vorplanung, Bestellung und Herstellung eines für den Austausch vorgesehene Steinrohlings. Nach Auskunft von Michael Jürkel haben die zusammengetragenen Informationen bisher keine nennenswerten Auswirkungen auf die Reihenfolge geplanter Maßnahmen. Südliches Querhaus, mittelalterlicher Chorbereich, Experimente mit Mörtel, der Bauzeitenplan ist fortgeschrieben bis ins Jahr 2070 und allein durch das Ende der Excel-Tabelle begrenzt. Reaktionäres Arbeiten ist da kaum möglich. Freilich wurden besorgniserregende, weil stark absturzgefährdete Stellen mit Netzen und anderen Haltekonstruktionen abgesichert. An anderen Stellen allerdings ist Gelassenheit erstes Gebot. So wurde in 100 m Höhe eine gebrochene und verschobene Fiale gesichtet, die scheinbar nur noch lose an ihrem Platz steht. "Das ist vermutlich ein Kriegsschaden. Aber was schon so viele Jahre hält, das wird nicht morgen gleich herunterfallen", da sind sich die Dombauhütten-Mitarbeiter einig. Alles im Griff also? Steintechniker Michael Jürkel: »Ich habe in den letzten Monaten viele Schreckmomente durchlebt. Aber Beunruhigung ist besser als Nichtwissen." Das Team der Dombauhütte ist mit seinen Sorgen übrigens nicht alleine. Auch die Jungs von Northdocks sichten die jeweils neu hinzugekommenen Abschnitte des digitalen Zwillings. Eigentlich halten sie Ausschau nach Mängeln im Gesamtbild. Sind Bereiche unscharf, sind Schnittstellen sichtbar? Wo muss nachgearbeitet werden? Unbewusst suchen und finden auch sie Schäden am Bauwerk. Joachim Perschbacher: "Manchmal sitze ich stundenlang am PC und klicke mich durchs Modell. Man kann sich in der Architektur und der Schönheit des Kölner Doms verlieren!" Sein Geschäftspartner Patrick Reschke fühlt sich dem Dom inzwischen emotional sehr verbunden. Die Vermessung des Kölner Wahrzeichens ist für ihn als gebürtigen Rheinländer nicht nur ein Prestige-Auftrag, sondern auch eine Herzen-sangelegenheit: "Ich habe inzwischen jede Doku gesehen, die es bei Youtube gibt zum Thema. In diesem Bau stecken 100.000ende Mannjahre Arbeit. Das sind Dimensionen, die ein Mensch gar nicht begreifen kann."

Wo leidenschaftliche Kulturbewahrer wie Jürkel und Küpper auf visionäre Technik-Freaks wie Reschke und Perschbacher treffen, könnte man Vorbehalte oder Konflikte erwarten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Tradition trifft auf Moderne, Erfahrung auf Abenteuerlust, Synergieeffekte entstehen: Was nach einer Aufzählung abgedroschener Phrasen klingt, ist die treffende Beschreibung einer vergnügten Zusammenarbeit. Die vier Männer verstehen sich blendend. Sie scherzen viel, sie entwickeln neue Ideen, hier der Bedarf, dort eine technische Möglichkeit, das Vorankommen lebt vom Austausch und von der geteilten Begeisterung. Viel diskutiert wird z.B. über die Innenraumvermessung. Die Mitarbeiter der Glaswerkstatt haben ebenfalls Bedarf an digitalen Daten ange-meldet. Eine App ist angedacht, die den Dom auch aus der Ferne begehbar macht oder Einblicke gewährt in Abschnitte, die sonst nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Nicht zuletzt könnten Brände simuliert und die Einsatzpläne von Feuerwehren darauf abgestimmt werden. Jürkel, Küpper und die gesamte Dombauhütte Köln sind dem finanzstarken Dombauverein dankbar dafür, dass dieser den Weg ins digitale Zeitalter durch die Übernahme der Projektkosten in Höhe von 250.000 € übernimmt: "Die Erstellung eines digitalen Zwillings ist für alle Domund Münsterbauhütten von Interesse. Doch es ist eine Frage der Finanzierung: Kann man sich das leisten? Ohne Dombauverein könnten wir das nicht."

Blick in die Zukunft
Nach und nach sollen nun die Stellen, die bei ersten Befliegungen eingerüstet waren, ebenfalls fotografiert werden. Zudem können nun jederzeit und mit wenig Aufwand Vorher-Nachher-Bilder angefertigt werden. Sogar von der Dombauhütte selbst? Patrick Reschke hält solche Gedankenspiele nicht für Spinnerei: "Schon jetzt gibt es autonom fliegende Drohnen, die auf Knopfdruck eine vorab programmierte Strecke zurükklegen. Ich halte es für realistisch, dass Drohnen in ein paar Jahren die Arbeit selbstständig erledigen. Michael kann dann seinen Liegestuhl auf die Domplatte stellen und eine Pina Colada trinken." Michael Jürkel lacht bei diesem Gedanken. Er ist gespannt, was die Zukunft bringen wird. Digitaler Zwilling! Was er vor nicht allzu langer Zeit für unmöglich gehalten hat, ist im Werden. Beschwingt macht er sich auf den Weg nach draußen. Die Sonne scheint, der Wind pfeift, der Himmel strahlt in schönstem Blau. Für einen Moment hält er inne: "Wir in Köln sind bekannt dafür, dass wir uns für Neues begeistern. Mit diesem Projekt setzen wir einen neuen Standard. Auch wenn wir im Moment noch gar nicht wissen, was wir mit all den Daten anfangen können, bin ich mir sicher, dass die virtuelle Realität unser Arbeiten und Denken verändern wird. Aber eines wird sich nie ändern, und das denke ich jedes Mal, wenn ich aus dem Büro hinausgehe: Wie wunderschön dieser Dom ist, wenn man vor ihm steht."

(Veröffentlicht am 28. Januar 2022)

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