Marmorzelt als Mahnmal

Rebecca Belmore, handgemeißeltes Marmorzelt, 140 x 200 x 200 cm groß (Foto: documenta, 2017)

100 Tage dauert alle fünf Jahre die documenta – normalerweise. Die 14. Ausgabe der internationalen Kunstausstellung dauert sogar 163 Tage. Sie findet vom 10. Juni bis 17. September nicht nur in Kassel statt, sondern noch bis zum 16. Juli auch in der griechischen Hauptstadt Athen.

Learning from Athen heißt dieser erste Teil der Ausstellung. Eine Geste kann für eine Gesellschaft mehr Wirkung haben als alle Rechtsverträge, davon ist der polnische Kurator Adam Szymczyk überzeugt. Die documenta 14 stellt in ihrem ersten Teil Menschen in ihrer Not und Verzweiflung in den Mittelpunkt. Flucht und Migration sind dabei die zentralen Themen. Auf dem Philopappos-Hügel westlich der Akropolis hat die 1960 im kanadischen Upsala, im Bundesstaat Ontario geborene Künstlerin Rebecca Belmore, die dem
indigenen Volk der Anishinaabe angehört, ein handgemeißeltes Flüchtlingszelt
aus Marmor "aufgeschlagen"; eine symbolische Zufluchtsstätte für die Obdachlosen, Geflüchteten und Vertriebenen dieses Planeten. Der Philopappos-Hügel ist benannt nach dem Prinzen Gaius Julius Antiochus Epiphanes Philopappos, einem Prinzen und hoch geschätztem Wohltäter des Königreichs Kommagene, der im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. lebte. Das Gelände wurde in den 1950er Jahren vom Architekten Dimitris Pikionis in Zusammenarbeit mit Studenten und lokalen Steinmetzen neu gestaltet und mit der Akropolis verbunden.

Symbolischer Unterschlupf
Rebecca Belmores Zelt aus pentelischem Marmor – handgemeißelt, perfekt moduliert, feingeschliffen und an verschiedenen Stellen glänzend poliert – erinnert in Form, Gestalt und Anmutung an eine temporäre Behausung, wie sie vielen Menschen in aller Welt auf ihrer Flucht vor Not, Krieg oder Vertreibung Schutz bot und bietet. Gegenüber der Akropolis mit ihren marmornen Relikten der Antike will Rebecca Belmore daran erinnern, dass die Geschichtsschreibung oft nur die Perspektive von oben über liefert und vor allem die Sichtweise der Herrschenden darstellt. Mit ihrem Marmorzelt schuf die Künstlerin in Athen ein Zeichen, das die Hilflosigkeit der Flüchtlinge in aller Welt zum Thema hat. Das Zelt bietet Flüchtlingen einen symbolischen Unterschlupf, auch wenn heute Kulturtouristen und documenta-Besucher für ein Selfie darin kauern. Das Zelt ist ein eindrucksvolles Werk an einem spektakulären Ort. Es steht beispielhaft für den Ansatz der documenta-Macher, die bekannten Entwicklungen der Kunst des letzten Jahrhunderts abzuklopfen und die Würde des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen als Garanten einer Gesellschaft, in der Schutz und Rücksicht herrscht.

(5.6.2017)

Autor/in: Willy Hafner